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Integrationsarbeit an unserer Schule –
Ein Erfahrungsbericht aus einem 10. Jahrgang (10.10.2010)

Mit der Gründung unserer IGS und dem Leitbild „EINE Schule für ALLE Kinder“ machte sich das damalige Kollegium und insbesondere der damalige Gründungsjahrgang – nicht nur bezogen auf die neue Schulform IGS - auf einen bisher unbekannten, spannenden, aufregenden Weg: Erstmals wurden an der IGS Waldschule Egels im Jahre 1995 SchülerInnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf (damals waren es SchülerInnen mit dem Förderbedarf im Bereich „geistiger Entwicklung“ und im Bereich „Lernen“) eingeschult und in einer Integrationsklasse mit nicht behinderten SchülerInnen und Schülern gemeinsam unterrichtet. Um eine solche Arbeit auch qualifiziert und im Sinne a l l e r Kinder leisten zu können, wurde das Kollegium durch eine Förderschullehrerin und durch eine pädagogische Mitarbeiterin verstärkt.

Rahmenbedingungen

Mittlerweile ist der Wunsch nach gemeinsamer Beschulung aller Kinder in das Schulprogramm der IGS aufgenommen worden. So wurden innerhalb der letzten 15 Jahre immer wieder Integrationsklassen von den Grundschulen Sandhorst und Lamberti kommend bei uns weitergeführt oder auch auf elterlichen Antrag bei uns neu eingerichtet.

Zurzeit (Schuljahr 2011/2012) bestehen an der IGS Egels vier Integrationsklassen in den Jahrgängen 5, 6, 7 und 10. Darüber hinaus gibt es sonderpädagogische Förderung für einzelne SchülerInnen und Schüler in weiteren Klassen. Die sonderpädagogische Förderung wird durch mittlerweile vier FörderschullehrerInnen geleistet, zwei pädagogische MitarbeiterInnen begleiten diese Arbeit.

Wir, das derzeitige Klassenteam der Klasse 10.1, wollen an dieser Stelle über unsere Erfahrungen in der Integrationsarbeit berichten. Zu unserem Tutorenteam gehören seit dem Jahre 2001 ein Lehrer, eine Förderschullehrerin und eine pädagogische Mitarbeiterin. Unsere SchülerInnen und Schüler befinden sich in ihrem letzten Schuljahr vor dem Abschluss im kommenden Sommer.

Prinzipien der Integrationsarbeit

Die Arbeit in der Integrationsklasse unterliegt gewissen Prinzipien und das Arbeiten und Lernen findet in einer I-Klasse unter besonderen, erweiterten Aspekten statt. Da das Arbeiten und die Zusammenarbeit abhängig sind vom jeweiligen Klassenteam und dessen Sichtweise, können sich die Prinzipien und o.g. Besonderheiten auch graduell unterscheiden.

Organisatorische Merkmale

Praxis

Wie kann so etwas im 9. und 10. Schuljahr funktionieren? Wie kann man sich „das“ als Außenstehender vorstellen? Fest steht, dass die Lerninhalte für die SchülerInnen mit Förderbedarf zu einzelnen Themen sehr reduziert sein können, wie folgende Beispiele zeigen.

Beispiel Deutschunterricht

Die SchülerInnen im Deutschkurs befassen sich mit dem Thema Liebeslyrik und lesen die verschiedensten Liebesgedichte im Deutschbuch. Matthias und Steffen (zwei Schüler mit einer geistigen Behinderung) sitzen mit im Klassenraum. Sie hören die Gedichte, verfolgen den Text im Lesebuch und das Unterrichtsgespräch über die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten einzelner Autoren. Während die SchülerInnen des Kurses anschließend den Arbeitsauftrag erhalten eigene Liebesgedichte unter Berücksichtigung bestimmter Versmaße zu verfassen, wechseln Matthias und Steffen für diese Zeit in den Gruppenraum, um die verschiedensten Liebesgedichte mit passender Körperhaltung dem jeweils anderen betont laut vorzulesen, die Gedichte auf die Anzahl der Strophen und auf Reimwörter zu „untersuchen“, ggf. fehlende Reimwörter aus einer Anzahl von Wörtern auszuwählen, ihr persönliches Liebesgedicht in „Schönschrift“ sauber abzuschreiben und das Blatt zu gestalten. Vielleicht gelingt es auch im gemeinsamen Gespräch in der kleinen Gruppe herauszufinden, warum Matthias ein anderes „Lieblingsgedicht“ hat als Steffen. Am Ende der Unterrichtseinheit werden die individuellen Schülerarbeiten des gesamten Deutschkurses in einer Gedichtsammlung zusammengeführt, bestehend aus eigenen, selbst verfassten Gedichten und den mit Anstrengung abgeschriebenen Gedichten in „Schönschrift“. Dieser Gedichtband wurde dem gesamten Kurs zugänglich gemacht.

Beispiel Englischunterricht

Im Englischunterricht geht es derzeit um „Todesstrafe“. Die SchülerInnen informieren sich anhand von Texten und der Biografie eines Todeskandidaten über das uns Europäern zunächst fremd erscheinende Thema. Während die SchülerInnen des Kurses ihre sprachliche Kompetenz weiter entwickeln, indem sie Stellung beziehen, Zusammenhänge erklären und dabei den Gebrauch der Zeiten üben, hat Matthias eine Karte der USA und den Atlas vor sich liegen. Er überträgt die Farben aus der Legende zu Staaten mit Todesurteilen auf sein Arbeitsblatt. Dabei kann er erkennen, dass in vielen Staaten der USA die Todesstrafe noch immer angewandt wird, sie in einigen wenigen Staaten ausgesetzt und in einzelnen Staaten des Nordwestens abgeschafft ist.

Auch ein Schüler/eine Schülerin mit einer geistigen Behinderung kann über Aussagen, die die Todesstrafe ablehnen oder auch befürworten, reflektieren und aus den Aussagen diejenige auswählen, die seiner/ihrer persönlichen Meinung am nächsten kommt und somit seine/ihre moralischen Grundwerte erweitern und festigen.

Beispiel Mathematikunterricht

Nicht immer ist es sinnvoll inhaltsgleich zu lernen, wenn z. B. zu einzelnen Themen wenig Bezug hergestellt werden kann oder eine schneller Themenwechsel zur Motivation nötig ist oder bestimmte Fertigkeiten wiederholt und trainiert werden müssen oder …. Während sich der Mathe-Kurs mit linearen und quadratischen Funktionen befasst, übt Matthias im Bereich „Geometrie“ derzeit wieder den Umgang mit verschiedenen Zeichengeräten. Er lernt das Messen und Zeichnen von Winkeln mithilfe des Geo-Dreiecks, das Zeichnen von Dreiecken mit Winkelmesser und Zirkel sowie das Berechnen der Winkelsumme mit dem Taschenrechner zur Kontrolle der Genauigkeit beim Zeichnen. Matthias weiß, dass er beim Ergebnis >180°< sehr genau gezeichnet hat und dass bei >178°< oder >182°< wohl wieder einmal der Bleistift angespitzt werden muss. Im Allgemeinen schult dieses Thema Matthias räumliche Vorstellungskraft, seine Feinmotorik beim Umgang mit dem Lineal, dem Geo-Dreieck und dem Zirkel, genaues Ablesen von Skalen, exaktes sorgfältige Zeichnen, ..... Aber auch hier lassen sich das Thema des Mathekurses und Matthias’ Bedürfnisse wieder zusammenführen, wenn er aus Wertetabellen für Funktionsgleichungen Punkte im Koordinatensystem markiert und damit den Funktionsgraphen zeichnet.

Über den Fachunterricht hinaus

Vom Kanon einzelner Fächer und Themen abrückend sehen wir ein ganz wesentliches Ziel von Integration für „Menschen mit Behinderung“ in der Begegnung mit der Vielfältigkeit und Normalität des Lebens . Dabei geht es nicht darum, alles können und beherrschen zu müssen, aber es geht darum, sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen, sich Neuem zu stellen und nicht ein ausgesuchtes „beschütztes“ Nischenleben zu führen. In gleicher Weise lässt sich dieses Ziel auch als Integration für „Menschen ohne Behinderung“ beschreiben, denn „Vielfältigkeit und Normalität des Lebens“ umfasst eben mehr als nur das „scheinbar Normale“.

In diesem Sinne haben alle SchülerInnen der Klasse über den alltäglichen Unterricht hinaus gemeinsam am Schulleben teilgenommen. Sie haben an außerschulischen Lernorten gearbeitet, sie haben Kino, Theater und Museen besucht, sie haben bei Sport- und Spielefesten gemeinsam gekämpft, gewonnen und verloren und bei Projekten und auf Klassenfahrten gemeinsame aber auch individuell unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Selbstverständlich haben die SchülerInnen mit Behinderung weitere außerschulische Lernorte auch über einen längeren Zeitraum genutzt, um lebenspraktische Erfahrungen zu ermöglichen. Dabei wurde das Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt geübt, nachdem anhand eines vorliegenden Rezeptes die Einkaufsliste für den am Folgetag stattfindenden AWT-Unterricht erstellt worden war. Für die Berechnung der Mengenangaben war die jeweilige Lehrkraft zuständig. Zum Thema „Einkaufen“ gehörte auch das „Kontrollieren“ des Kassenbons mit dem Taschenrechner in Verbindung mit dem Mathematikunterricht. Auch ein zusätzlicher Besuch des Weihnachtsmarktes als außer-schulischem L e r n ort kann auf das Trainieren lebenspraktischer Kompetenzen abzielen, wie zum Beispiel sich eigenständig etwas zu bestellen oder eine Kleinigkeit einzukaufen und selbstständig zu bezahlen.

Mit Freude beobachten wir die Entwicklung unserer SchülerInnen und Schüler insgesamt und insbesondere derjenigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf: Nach einer relativ kurzen Zeit des Einlebens an der IGS haben sie sich recht schnell in unserem doch großen System zurechtgefunden. Dazu benötigten sie jedoch die Unterstützung ihrer MitschülerInnen, die mit „aufgepasst“ haben, sowie die ihrer TutorInnen und des gesamten Kollegiums.

Wichtig ist auch, dass die IntegrationsschülerInnen nicht nur fachlich, sondern auch emotional und sozial konstant begleitet werden von einer Person, die nicht ausschließlich mit ihnen arbeitet und lernt, sondern die darüber hinaus mit ihnen „das Leben lebt“ in Form von gemeinsamen Spielen, Teerunden, sozialem Austausch mit IntegrationsschülerInnen aus anderen Jahrgängen u.v.m..

Ebenso haben wir mit Freude auf der Abschlussfahrt nach Berlin beobachtet, wie selbstverständlich sich Matthias innerhalb des Jugendhotels organisierte und wie die Jungen in seinem 6er-Zimmer bspw. beim Wecken Verantwortung übernahmen, wenn die Schülergruppen gelegentlich unterschiedliche Frühstücks- und Treffzeiten hatten.

Auch die positive Lernentwicklung der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen ist hervorzuheben. Teilweise können sie – nach Fächern unterschiedlich – mit einem Teil der jeweiligen Lerngruppe zielgleich unterrichtet werden. In jedem Fall können sie am Unterrichtsgespräch teilnehmen, mitdenken und Zusammenhänge verstehen.

Keine grundlegenden Unterschiede zu den MitschülerInnen erleben wir im sozialen Miteinander. Ihre sozialen Kompetenzen bzw. ihr Bedarf an sozialem Lernen entspricht der Normalität in der Schülergemeinschaft.

Was haben die MitschülerInnen davon?

Nachdem im Wesentlichen die „Schüler mit Behinderung“ in unserer Klasse in den Blick genommen wurden, soll auch der Frage nachgegangen werden, was bringt eine integrative Beschulung für „die anderen“? Wir haben die Klasse immer als Einheit gesehen, bestehend aus Schülerpersönlichkeiten mit individuellen Lernvoraussetzungen, Interessen, Schwerpunkten, unterschiedlichem familiären Hintergrund etc.. Wollen wir aber genauer hinschauen, was es „der anderen Seite“, den SchülerInnen ohne „attestierten sonderpädagogischen Förderbedarf“ gebracht hat, können wir Folgendes feststellen:

Sie konnten lernen, dass in einer Gruppe von Menschen, die deutlich unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen mitbrachten auch unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen gestellt wurden, dass aber gleichzeitig eine Arbeits- und Lernleistung eingefordert wurde, die jedem/jeder einzelnen Anstrengungsbereitschaft abverlangte. Dabei konnten sie erleben, dass die Wertschätzung der Person von dem Leistungsvermögen unabhängig war. Sie lernten Rücksichtnahme, Toleranz und das Übernehmen von Verantwortung auch für Mitmenschen. Diese Fähigkeiten, die soziale Kompetenz ausmachen, haben die Schüler entwickeln können. In einer Klasse mit diesen sehr weit auseinander liegenden Begabungen und Fähigkeiten werden Unterschiede nicht nur leichter wahrgenommen sondern auch leichter als normal akzeptiert.

Wenn wir Integrationsarbeit hier als ein rundum positives Lernfeld darstellen und am Ende alles gelungen und erfolgreich erscheint, erinnern wir uns ehrlicherweise auch an äußerst mühsame und zeitaufwendige Situationen und Phasen im Schulalltag, die wenig bis keinen Fortschritt erkennen ließen oder wo die objektiven und subjektiven Bedingungen es nicht zuließen erfolgreich zu sein. Aber dieses partielle Scheitern stellt nicht das ganze System in Frage sondern verlangt nach erfolgreicheren Methoden und Wegen zu suchen.

Nach unserer Erfahrung sind ein Garant für gelungene Integration eine überaus enge, vertrauensvolle und kooperative Zusammenarbeit im Klassen- und im Jahrgangsteam sowie darüber hinaus ein Kollegium, das den Anspruch, „eine Schule für alle Kinder“ aktiv vertritt und dies auch durch eine Verankerung im Schulprogramm deutlich macht.

Ausblick und weitere Entwicklungen

Ein letzter Gedankengang soll noch dem Ausblick gewidmet werden. Nachdem der Deutsche Bundestag und der Deutsche Bundesrat Ende 2008 die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet haben, ist der Artikel 24 grundlegend für eine inklusive Bildung in unserem Land.

Der Artikel 24 sagt:

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen ……


Und weiter:

(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass …… b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.


Dies bedeutet, dass Eltern von Kindern mit den verschiedensten Behinderungen ein Anrecht haben, dass ihre Kinder im allgemeinen und nicht in einem separierenden Schulsystem beschult werden. Wir und ebenso alle anderen Schulen werden sich darauf einstellen müssen, dass dieses Recht auch in Anspruch genommen wird und dass Kinder mit den verschiedensten Behinderungen zu unserem ganz normalen Schulalltag in allen Klassen dazugehören werden.


In diesem Sinne!

Die Grundschulen sind auf diesem Weg mit der „Sonderpädagogischen Grundversorgung“ schon ein Stück voran gegangen. In diesen Schulen werden SchülerInnen mit einem Förderbedarf im Bereich „Lernen“ nicht aussortiert und an eine Förderschule überwiesen. Diese Schulen werden durch Förderschullehrkräfte mit 2 Stunden pro Klasse für die gesamte Schule unterstützt. Das ist sicher sehr wenig und an manchen Grundschulen absolut zuwenig, aber es ist eine zukunftweisende Entwicklung, die nicht mit dem Ende der Grundschulzeit abbrechen kann.

Unsere Schule bietet durch die langjährige Erfahrung vieler KollegInnen in der Integrations-arbeit sicher gute Voraussetzungen, um auf diese Herausforderungen zu reagieren und den bereits eingeschlagenen Weg zu erweitern und neu auszurichten für eine inklusive Beschulung.

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